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(de) Abschaffung der Wehrpflicht

From Worker <a-infos-de@ainfos.ca>
Date Sat, 21 Jun 2003 17:17:16 +0200 (CEST)


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A - I N F O S N E W S S E R V I C E
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> Abschaffung der Wehrpflicht
Wem nützt eine Berurfsarmee, Diskussionsbeitrag
Die Zeichen stehen auf Abschaffung der Wehrpflicht in der BRD. Unter dem
Gesichtspunkt, daß jeder aufgehobene Zwangsdienst ein Erfolg in Richtung
"Befreiung der Gesellschaft vom Staat" ist, wäre dies gutzuheißen. Doch
verbessert die Aufhebung der Wehrpflicht tatsächlich im hier und jetzt unsere
Position?
Die allgemeine Wehrpflicht ist ein Produkt der jüngeren Geschichte. Preußen
konnte tatsächlich mal "als modernster Staat Europas" bezeichnet werden,
die Kantonverfassung von 1733 war der Vorläufer der allgemeinen Wehrpflicht
in Europa. Im Zuge der Französischen Revolution kam es in Frankreich 1793
zu einem Wehrpflichtgesetz. Es muß nicht alles neu geschrieben werden,
deshalb ein Zitat von Emilio Lusso: "Heutzutage ist ein Heer nicht mehr
wie seinerzeit in den Dynastiestaaten (bis zum 18. Jahrhundert) eine Art
Privatbesitz einzelner, seit der Französischen Revolution sind die Heere
in Europa allmählich zu großen nationalen Einheiten geworden. Die
Erfordernisse der modernen Kriegsführung haben die allgemeine Wehrdienst-
pflicht nötig gemacht, der sich niemand entziehen kann. Heute ist das Heer
die Masse. Wenn mehrere Jahrgänge einberufen werden oder gar eine
Allgemeinmobilisierung stattfindet, dann wird das Heer zur Masse mit den
gleichen Unzuträglichkeiten, den gleichen Bestrebungen, dem gleichen
Bewußtsein. Dann läuft die Geschichte schneller ab. Das Heer wird zur
Avantgarde der Revolution. So war es 1917 in Rußland und kurze Zeit auch
in den beiden anderen großen Kaiserreichen Europas." (1)

Im Vergleich zu den Söldnerheeren des Mittelalters entsprach der Zugang zum
Heer historisch gesehen einen gesellschaftlichen Fortschritt. Die Wehrpflicht
entstand während des Übergangs vom Feudalismus zum bürgerlichen Staat.
Auch in den antiken Sklavenhalterstaaten war wie im Mittelalter in den
meisten Fällen ganzen Bevölkerungsschichten die Ausbildung und der Dienst
mit Waffen verwehrt.

Die Tage des bürgerlichen Staates sind irgendwann gezählt. Das zeigt sich
schon daran, daß vor allem in Westeuropa in einem Staat nach dem anderen die
Wehrpflicht abgeschafft wird, aber bestimmt nicht, weil sie sich dem Anti-
militarismus verpflichtet fühlen. Die neue Weltordnung und die weltweite
Verschärfung der Klassenwidersprüche fordert eine andere Art von Armee, sie
fordert jederzeit und weltweit einsetzbare Spezialisten, die nicht nach dem
Warum und Wieso fragen. Der Nebeneffekt eines Berufsheeres ist, daß es auch
gegen die eigene Bevölkerung leichter einsetzbar ist. Im Falle einer
revolutionären Situation hätten auch viel weniger mögliche Aufständische
Zugang zu Waffen oder Erfahrungen damit.

Gerade wenn es zu Einsätzen und kriegerischen Auseinandersetzungen kam,
hatten Antimilitaristen immer gute Ansatzmöglichkeiten innerhalb der Armee.
Die Herrschenden konnten nie sicher sein, ob die Zwangsrekrutierten
tatsächlich das Geforderte tun würden oder ob sie sich vielleicht gegen die
Herrschenden wenden würden. In allen fortschrittlichen Revolutionen oder
Aufständen spielten übergelaufene Soldaten eine große Rolle. Musterbeispiel
ist die Revolte russischer Matrosen am 14.6.1905, Stichwort "Panzerkreuzer
Potemkin". Anderes Beispiel, während der Bewegung gegen den NATO-Nachrüstungs-
beschluß Anfang der 80-er Jahre unterschrieben immerhin Hunderte von Bundes-
wehrsoldaten einen Aufruf, bei Erteilung des Marschbefehls in den Krieg
stattdessen nach Bonn zu marschieren.

Sollen Anarchisten, Rätekommunisten oder andere Revolutionäre jetzt die Beibe-
haltung der Wehrpflicht fordern? Das können wir kaum als Antimilitaristen
vertreten. Doch die politische Hauptstoßrichtung der Antimilitaristen muß der
Kampf gegen die weltweit einsetzbaren deutschen/europäischen
Interventionstruppen sein. Diese Interventionstruppen sind nicht mit
kurzfristig dienenden Wehrpflichtigen zu machen. Rot-Grün darf auf keinen
Fall die kommende mögliche Aufhebung der Wehrpflicht als antimilitaristischen
Erfolg verkaufen dürfen.

Interessant ist, daß so gut wie alle entscheidenden Rüstungsprojekte der Ära
Kohl unter Rot-Grün fortgesetzt wurden, es gab keinerlei Bruch in der
Kontinuität. Rüstungsprojekte wie der Einsatzgruppenversorger der Marine,
der neue Transporthubschrauber der nächsten Generation NH-90, "Europas
vielseitigsten Transporter A 400 M" ,luftverladetaugliche Panzer u.v.a.m.
haben im Allgemeinen mindestens eine Vorlaufzeit von zehn Jahren. War bis
Anfang der 80-er Jahre noch die "Landesverteidigung" Schwerpunkt, wurde
bereits vor Auflösung der Sowjetunion auf eine weltweit agierende
Interventionsarmee hingearbeitet. Verfassung und Gelöbnisspruch hinken
derzeit der neuen Wirklichkeit noch hinterher.

Da müssen ein wenig Brücken gebaut werden, das versucht u.a. der Inspekteur
des Heeres, Generalleutnant Helmut Willmann: "Die in der Verfassung
begründete Verpflichtung, als ständige Nationale Aufgabe den Schutz und die
Sicherheit deutscher Staatsbürger zu gewährleisten, verlangt ständig die
Fähigkeit, eine Bedrohung abzuwenden, ebenso wie die Fähigkeit der Rettung
aus gegnerischer Gewalt. Dies erfordert, daß schnell spezialisierte
militärische Kräfte jederzeit verfügbar sind. Die vom Heer hierfür bereit-
zuhaltenden Spezialkräfte sind somit wichtiges Element des politischen und
militärischen Krisenmanagements. Das weltweit zunehmende Konfliktpotential
und die Erweiterung nach Typen und Anzahl von nicht-staatlichen Konflikt-
beteiligten führen dazu, daß die Streitkräfte sich insbesondere bei
Friedensmissionen verstärkt mit Bedrohungen und Gefährdungen, die von
verdeckt kämpfenden Kräften ausgehen, auseinandersetzen müssen. Zum Schutz
der eigenen Truppe, die mit ihren (herkömmlichen) Mitteln diesen
Gefährdungen nur unzureichend begegnen kann, sind spezialisierte Kräfte bei
Einsätzen außerhalb Deutschlands bereitzuhalten..." (2)
Der Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Hans Lüssow, wird in Zusammenhang mit
der geplanten Beschaffung von drei Einsatztruppenunterstützungsschiffen
ebenfalls konkret:
"In der nun anstehenden Phase der Erarbeitung eines Material- und Ausrüstungs-
konzeptes wird sicher über die Fähigkeit zum militärischen Seetransport zu
sprechen sein. In diesen Zusammenhang ist es falsch, eine Verbindung zum
>Mehrzweckschiff< herzustellen. Es geht hier vorrangig um den militärischen
Transport von Personal und Material unter möglichen Bedrohungsszenarien und
der Fähigkeit, dieses auch bei nicht verfügbarer Infrastruktur anzulanden.
Wie viele Schiffe dazu benötigt werden, ist im Rahmen dieses Vorhabens zu
entscheiden. Ich denke aber, daß mit der Neuausrichtung der Bundeswehr auf
neue Aufgaben eine solche Fähigkeit geschaffen werden muß..." (3)

Sowohl in der Struktur der Führungsebene wie bei der Ausrüstung von Heer,
Luftwaffe und Marine hat es also in den letzten Jahren gravierende Änderungen
gegeben, die aber erst der Anfang sind. Die Praxis ist dem aber weit
vorrausgelaufen. War es ein geniales Kalkül der Herrschenden, daß
"ausgerechnet" unter Rot-Grün die ersten Interventionskriege geführt wurden,
die ersten Protektorate errichtet wurden? Allein diese Tatsache beweist fast
alleine, daß hier keine Demokratie herrscht und daß das Gerede von
imaginären Herrschenden kein linkes Gefasel ist. Realistisch gesehen wäre
bei einer CDU/CSU/FDP-Regierung der Widerstand der Linken ungleich größer
gewesen. Es gibt auch kaum strategische Unterschiede von CDU/CSU/FDP/Rot/Grün
in dem Bestreben, Europa zu einer von den USA eigenständigen Supermacht zu
entwickeln, Cohn-Bendit versucht dies als Reform der herrschenden
Weltordnung zu verkaufen, CDU/CSU reden halt lieber von nationalen und
europäischen Interessen, wenn auch immer noch sehr verhalten, um keinen
Konflikt mit den USA zu riskieren. Die Farben ROT und GRÜN ergeben im Mix
BRAUN, gesehen an Ereignissen wie bei den Antiglobalisierungsaktionen in
Genua, Äußerungen Schröders und Schilys dazu oder zu Castor-Blockadeaktionen
ist diese Parallele leider kein schöner Witz, die Parallele löst vielmehr
eine gewisse Beklemmung aus.

Die wirklichen Entscheidungen fällen aber nicht Schröder oder Schily, sie
fallen auch nicht im Bundestag oder in den Parteien, sondern in den
Zentralen der multinationalen Konzerne. Und eben die bedienen sich am
liebsten bezahlter Spezialisten oder Killertrupps, geht es doch meistens
darum, hier oder da bei einem Unruheherd zu intervenieren. Unruheherde
wird immer geben und immer mehr. Immer da, wo die Widersprüche zwischen
Ausgebeuteten und Nutznießern der herrschenden Weltordnung aufbrechen.
Dieser Diskussionsbeitrag soll aber kein Rundumschlag sein, sondern sich
aus aktuellen Anlaß auf die Problematik Wehrpflicht und weltweite
Interventionskriege konzentrieren, es soll nur gesagt werden, daß
Antimilitarismus für uns ein Aspekt des Kampfes der Unterdrückten und
Ausgebeuteten für Freiheit, Selbstbestimmung und Vergesellschaftung aller
Produktionsmittel ist.

Große kontinentale Landkriege wird es nicht mehr geben, falls der Rest der
Sowjetunion noch aufgelöst werden soll, dann wird das wie in Jugoslawien
ablaufen: Auf politischer Ebene wird auf vorhandene innerstaatliche
Widersprüche (4) angesetzt, es wird die Zerstückelung propagiert. Flankiert
wird diese Ebene von Geheimdienstaktionen. Ist der Staat dann tatsächlich
in einen Auflösungsprozeß, wird Krisenherd für Krisenherd interveniert.
Wie bei Orwell heißt es dann: "KRIEG IST FRIEDEN". Das Szenario der Zukunft
wird an die Zeiten vor dem bürgerlichen Staat erinnern: Bezahlte Söldner im
Dienste der Konzerne, die weltweit für Ordnung sorgen. Irgendwie erinnert
das an den Feudalismus, wenn auch auf anderen Ebenen.

Die Wehrpflicht wird mit dem bürgerlichen Staat fallen. Wenn wir aber den
Fall der Wehrpflicht als Stoßrichtung sehen, werden wir Antimilitaristen
womöglich zu Reformatoren für eine weitere Entwicklungsstufe des Kapitalismus.
Das sollte nicht geschehen.


KAMPF DEM KAPITALISMUS HIER UND WELTWEIT!
FÜR EINE SELBSTBESTIMMTE, DEZENTRALE REVOLUTIONÄRE ORGANSIERUNG!

Anarchisten/Rätekommunisten München

(1) Dieser Abschnitt aus "Theorie des Aufstandes" vom Emilio Lussu wurde noch
vor dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, hat aber noch teilweise Gültigkeit.
(2) Wehrtechnik IV/2000, S. 30
(3) Ebenda S. 57/58
(4) Kleine Anmerkung: Aus anarchistischer Sicht muß leider auch gesagt werden,
daß z.B. in Jugoslawien tatsächlich erhebliche innere Widerstände bestanden.
Im Vergleich zur Sowjetunion spätestens ab 1921 herrschte in Jugoslawien zwar
phasenweise ein etwas fortschrittlicherer Sozialismus-Versuch, aber auch
dort kamen Freiheit und Selbstbestimmung der Menschen zu kurz, entstanden
neue Ausbeuterschichten. Die politische und militärische Zerstückelung
Jugoslawiens, die fast nach dem Muster der Nazis 1941 ablief, ist trotzdem
durch nichts zu rechtfertigen, die Probleme hätten innerhalb von Jugoslawien
gelöst werden müssen. Die Aufteilung von Staaten nach Bevölkerungsgruppen hat
ebenso nichts mit anarchistischen Prinzipien zu tun.

20.11.2002




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