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{Info on A-Infos}
(de) Tschechien: Interview mit ORA-SOLIDARITA
From
I-AFD_2@anarch.free.de (FdA Hamburg)
Date
Fri, 22 Dec 2000 01:07:08 -0500 (EST)
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A - I N F O S N E W S S E R V I C E
http://www.ainfos.ca/
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Interview mit der russischen anarchistischen Zeitung "Autonomist",
veroeffentlicht von Autonomous Action
> 1) Ein paar Worte zur wirtschaftlichen, sozialen und politischen
> Situation in Tschechien.
Die tschechische ArbeiterInnenklasse erlebte ein schwieriges Stadium der
kapitalistischen Entwicklung. Eine Wirtschaftskrise, die 1997 anfing,
beendete eine Phase, in der eine geschuetzte nationale kapitalistische
Wirtschaft aufgebaut wurde und hat die Integration der tschechischen
Wirtschaft in das globale kapitalistische System beschleunigt. Das
bedeutet natuerlich, dass die traditionellen Industrien bankrott gehen und
die Arbeitslosigkeit sprunghaft angestiegen ist. Die tschechischen
Kapitalisten in Noeten haben beschlossen, den "russischen Weg" zu gehen
und ihren ArbeiterInnen ueber Monate keine Loehne ausgezahlt. Zum Beispiel
waren letztes Jahr Weihnachten 130.000 ArbeiterInnen ohne Einkommen. Der
oeffentliche Sektor leidet unter Geldmangel. Zehntausende
EisenbahnarbeiterInnen und StahlarbeiterInnen sind gefaehrdet.
Im politischen Zusammenhang hat dieses neue oekonomische Stadium eine
Phase der rechten Regierungen abgeloest, die eng mit den tschechischen
Industriellen und Bankiers verbunden waren. Eine neue sozialdemokratische
Regierung ist seit 1998 im Amt und seitdem einige schmerzhafte neoliberale
Massnahmen eingefuehrt.
> 2) Erzaehl uns etwas ueber den Anarchismus in deinem Land.
In der tschechischen Republik hatte der Anarchismus eine vergleichsweise
starke Tradition seit dem Ende des 19. Jahrhunderts und dem Anfang des 20.
Jahrhunderts. Aber diese Tradition wurde von den Leninisten seit 1925
zerstoert und begraben. Nach 1989 musste die tschechische anarchistische
Bewegung von vorn anfangen. Ihre Gruendung war spontan, aber es hat lange
gedauert, bis sie ueber gegenkulturelle Aktivitaeten hinausgewachsen ist
und eine wirkliche organisatorische Form mit politischen Inhalten annahm.
Jetzt gibt es im Grunde drei verschiedene anarchistische Organisationen in
unserem Land. Erstens gibt es die Tschechoslowakische Anarchistische
Foederation, die eine ****"synthetist" Organisation ist. Sie scheint jetzt
ziemlich schnell zu verfallen. Zweitens gibt es die Foederation der
Sozialen AnarchistInnen, die tschechische Sektion der IWA/AIT mit cirka 30
Mitgliedern und ziemlich reger Publikationstaetigkeit. Und drittens gibt
es die Organisation der Revolutionaeren AnarchistInnen - SOLIDARITA, der
ich angehoere. Wir haben cirka 12 Mitglieder und 50 SympathisantInnen und
veroeffentlichen eine Zeitung, die "Solidaritaet". Wir geben auch mehrere
Veroeffentlichungen ueber den Anarchismus heraus, sind aber hauptsaechlich
in Arbeits- und anderen Kaempfen aktiv.
> 3) Wir haben von HausbesetzerInnen und AntifaschistInnen in Tschechien
> gehoert. Was kannst du uns dazu erzaehlen?
Ja, es gibt immer noch zwei besetzte Haeuser in Prag. Zum Zeitpunkt der
Besetzung waren sie mindestens in einem gewissen Ausmass politisch, aber
jetzt sind sie hauptsaechliche Orte kultureller Aktivitaeten. Die
tschechischen AntifaschistInnen haben sich in der Anti-Faschistischen
Aktion (AFA) organisiert. Die Entwicklung ihrer politischen Vorstellungen
ist noch nicht abgeschlossen, aber sie sind mehrheitlich anarchistisch,
also ist es sehr wahrscheinlich, dass die AFA eine libertaere
revolutionaere antifaschistische Gruppe wird, die den Leninismus bewusst
zurueckweist und bekaempft.
> 4) Wie sieht es mit dem Klassenkampf aus?
And how working class struggle is going?
Wie ich schon sagte, die ArbeiterInnenklasse befindet sich jetzt in einer
sehr schmerzhaften Phase. Vor einigen Monaten brachen groessere
Arbeitskaempfe aus gegen die Nichtzahlung von Loehnen und gegen
Massenentlassungen. Zuerst gingen diese Kaempfe von den Gewerkschaften
aus, aber wegen der absolut pro-kapitalistischen Haltung der
Gewerkschaftsfuehrung kamen sie ueber Demonstrationen,
Protestversammlungen, Streikwarnungen und einem einstuendigen Warnstreik
praktisch nicht hinaus. Die Gewerkschaftsbuerokraten kaempften auch nur
fuer finanzielle Hilfen fuer einige der in Schwierigkeiten geratenen
Firmen, aber nicht fuer Arbeitsplaetze und Loehne, die fuer die
ArbeiterInnen die Schluesselfragen waren.
Eine grosse Unzufriedenheit unter den Gewerkschaftsmitgliedern an der
Basis und bei den nichtorganisierten ArbeiterInnen in den Firmen fuehrte
zu einer Reihe spontaner Proteste und Versuche zur Selbstorganisation. Ein
Muster fuer die Spontaneitaet der ArbeiterInnenklasse und fuer die
Selbstorganisation waren die Bergleute [...], die nicht nur ihre Bosse,
sondern auch die Gewerkschaftsbuerokratie angriffen. Bergleute von der
Kohinoor-Mine bildeten das erste von der Gewerkschaftsbuerokratie
unabhaengige Streikkomitee und konnten auf diese Weise ihre oertlichen
Gewerkschaftsvorsitzenden erfolgreich radikalisieren. Sie haben auch den
ersten Besetzungsstreik in unserem Land durchgefuehrt. Dadurch haben sie
die ArbeiterInnen bei CKD DS inspiriert, die spontan Streikposten vor den
von Riot-Polizei geschuetzten Ministerien bildeten.
Bei diesen Beispielen konnte ORA-SOIDARITA ihr Aktionsprogramm fuer
ArbeiterInnenkaempfe weiterentwickeln und wir haben bei zwei weiteren
Arbeitskaempfen interveniert. Wir waren wenigstens teilweise erfolgreich.
In zwei Fabriken wurden von den aktivsten ArbeiterInnen
ArbeiterInnenaktionsgruppen (AAG) gegruendet. In einer der beiden, bei
denen die AAG sehr stark von unseren Vorstellungen beeinflusst waren,
versuchten sie, ein autonomes Streikkomitee zu waehlen und cirka 1000
ArbeiterInnen nahmen an einer Vollversammlung teil, die von den AAG
einberufen worden war. Leider wurde dieser Versuch von einer Allianz des
Managements und der Gewerkschaftsfuehrung unterdrueckt. Trotzdem hatten
Management, Gewerkschaftsbuerokratie und sogar die Regierung Angst vor
dieser Aktion und beschlossen daher, die ArbeiterInnen zum Schweigen zu
bringen, indem sie ihre Forderungen erfuellten. Der Vorsitzende der
groessten Gewerkschaftsfoederation warnte andere davor, diesem Beispiel
vielleicht zu folgen, er wuerde dies nicht unterstuetzen und meinte,
"Anarchie hat in unserem Land keinen Platz".
In der zweiten Fabrik organisierten die AAG und ORA-SOLIDARITA eine
gemeinsame Demo von cirka 300 ArbeiterInnen und mehrere erfolgreiche
Versammlungen. Aber da dieser Konflikt schon zu lange dauerte und weil
auch der Multi, dem diese Fabrik gehoert, offiziell Bankrott erklaerte,
wurden viele ArbeiterInnen demoralisiert und suchten neue Arbeitsplaetze.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass es weitere Kaempfe geben wird und wir
hoffen, dass wir da noch mehr dafuer tun koennen, die anarchistische
Vorstellungen von direkter Aktion und direkter Demokratie populaer zu
machen.
> 5) Erzaehl uns von deiner Gruppe. Was heisst fuer euch Plattformismus?
Die ORA-SOLIDARITA ist eine politisch revolutionaere Organisation. Das
heisst, dass wir nicht vorgeben, eine "revolutionaere" Gewerkschaft zu
sein und auch keine werden wollen. Wir sind einfach eine Organisation von
AnarchistInnen, die ihre Kraefte vereinen, um wirtksamer anarchistische
Ideen in allen Arbeitskaempfen propagieren zu koennen und dadurch zu
versuchen, eine selbstverwaltete ArbeiterInnenbewegung aufzubauen, die
auch direkter Aktion und einem libertaeren Anti-Kapitalismus basiert.
Unsere Politik begruendet sich auf solche Dokumente wie die
"Organisatorische Plattform der Libertaeren Kommunisten" von Nestor
Makhno, Peter Arshinov und Ida Mett, einem Manifest der Gruppe Freunde von
Durruti und dem "Manifest des Libertaeren Kommunismus" des beruehmten
franzoesischen Anarcho-Kommunisten Georges Fontenis. Diese bilden die
Grundlage einer sogenannten "plattformistischen" Tradition innerhalb des
Anarchismus. Natuerlich sehen wir diese Schriften nicht als das letzte
Wort zur Entwicklung der anarchistischen Theorie an, sondern eher als
Ausgangspunkt.
Im grossen und ganzen heisst Plattformismus fuer uns, dass eine
anarchistische Organisation ein gemeinsames revolutionaeres Programm
braucht, um effektiv zu sein, und eine gemeinsame revolutionaere
Strategie, und ihre Mitglieder muessen einer freiwilligen Selbstdisziplin
zustimmen. Viele AnarchistInnen glauben, dass das zu einer neuen
zentralistischen Partei fuehrt, aber das ist ueberhaupt nicht so. Eine
plattformistische Organisation ist eine Foederation, die auf direkter
Demokratie basiert und alle politischen Initiativen und Aktivitaeten
kommen von unten. Die Mitglieder koennen ihre eigenen Vorstellungen und
Kritikpunkte zu allen Beschluessen und Taktiken haben, aber wenn sie diese
ausserhalb der Organisation verbreiten, muessen sie klarstellen, dass dies
ihre eigenen Vorstellungen sind und nicht die der Organisation. Wenn eine
anarchistische Organisation effektiv sein will, kann sie einfach nicht mit
zwei Stimmen sprechen, das ist nur verwirrend fuer die Leute, die [nicht
erkennen koennen] wofuer wir einstehen und wofuer nicht.
> 6) War die ORA-SOLIDARITA eine Gruppe, die das mitorganisiert hat,
> dass Madlein Albright mit Eiern beworfen wurde?
Nicht direkt. Das war eine spontane direkte Aktion von zweien unserer
Mitglieder, die aber von der gesamten ORA-SOLIDARITA von ganzem Herzen
unterstuetzt wird. Es sollte ein Protest gegen den US-Imperialismus sein,
der sich nicht nur in den Kriegen gegen Irak und Serbien manifestiert,
sondern auch in transnationalen Institutionen des globalen Kapitalismus
wie des IWF, der Weltbank und der Welthandelsorganisation. Diese direkte
Aktion war bei den tschechischen ArbeiterInnen sehr populaer und erhielt
viel Aufmerksamkeit von den Medien, wodurch wir die Oeffentlichkeit mehr
auf die bevorstehenden antikapitalistischen Proteste gegen IWF und
Weltbank in Prag aufmerksam machen konnten.
> 7) Erzaehl uns was ueber die Rolle der Solidarita bei den Aktionen
> gegen den IWF.
Zuerst war die ORA-SOLIDARITA dafuer, dass sich die tschechischen
KlassenkampfanarchistInnen einer Dachorganisation anschliessen. Wir
hofften, dass wir zusammen in der Lage sein wuerden, die so
antikapitalistisch und libertaer wie moeglich zu gestalten. Aber leider
standen wir bei diesem Versuch allein und wurden nur von einigen
GenossInnen der Tschechoslowakischen Anarchistischen Foederation
unterstuetzt. Trotzdem schlossen sich mehrere Mitglieder von ORA-
SOLIDARITA der Initiative gegen Oekonomische Globalisierung (INPEG) an, um
dort Raum fuer revolutionaere anarchistische Vorstellungen und
Organisationsmethoden zu oeffnen.
Daneben rief ORA-SOLIDARITA zu einer unabhaengigen und vereinten
Klassenkampfmobilisierung fuer die S26-Demos in Prag unter der
ArbeiterInnenklasse auf. Leider waren wieder nur wenige lokale
AnarchistInnen, Radikale und libertaere AntifaschistInnen an
entsprechenden praktischen Aktionen interessiert. Wir versuchten auch,
internation AnarchistInnen zu mobilisieren, entweder zu den Protesten nach
Prag zu kommen oder zu Hause eigene Proteste zu organisieren. Wir baten
die AnarchistInnen, die nach Prag kommen wollten, einen "Schwarz-Roten"
revolutionaeren antikapitalistischen Block zu bilden.
In unserem Land organisierten wir anarchistische Infostaende, verbreiten
Argumente dafuer, dass die ArbeiterInnen sich den Protesten anschliessen
sollten, verteilten Sonderausgaben unserer Zeitung vor den Fabriken, in
denen wir bereits einige Anerkennung hatten und organisierten
internationalen Druck auf die tschechischen Gewerkschaften, sich dem
Protest anzuschliessen. Mindestens in zwei grossen Fabriken wurden wir von
den ArbeiterInnen unterstuetzt, die eine kollektive Teilnahme der
Gewerkschaften an den S25 von ihren Gewerkschaftsbossen forderten. Die
lehnten natuerlich ab.
Ich wuerde sagen, dass die wenigen tschechischen AnarchistInnen von allen
Organisationen, die sich an diesen Sachen beteiligten, sehr viel erreicht
haben. Es gab ein vereintes - wenn auch etwas disorganisiertes -
anarchistisches Kontingent von cira 4-5000 Leuten bei den S26, die die IMF/
Weltbank-Konferenz sehr effektiv stoerten. Es schlossen sich auch bis zu
2000 junge tschechische ArbeiterInnen, Arbeitslose und StudentInnen der
Prager Demo an. Und dank der internationalen anarchistischen
Organisationsbemuehungen und der direkten Aktionen waren wir in der Lage,
die Trotzkisten und Stalinisten bedeutungslos zu machen, wenn nicht sogar
die "Antiglobalisierungs"-Reformer des Kapitalismus aus den verschiedenen
NGOs.
http://flag.blackened.net/revolt/inter/groups/solidarita/interview_oct00.html
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